Comtheo * Neue Predigten von Martin Jensen (2002)


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Predigt zur Auferweckung des Lazarus am 15. Sonntag nach Trinitatis
15. September 2002 in Brekendorf

Liebe Gemeinde,
ein Mensch erhebt sich aus dem Grab seines Lebens, er legt die Bande 
des Todes ab und steigt hinaus ins Licht. 
Da steht er, Lazarus, auferweckt vor der Zeit, blinzelt verdutzt in die 
Sonne und sieht Gesichter voll Staunen. Verwunderung und Furcht 
mischen sich. Ein Kind fängt an zu weinen, einige Freunde weichen 
zurück. Das ist schon unheimlich, wenn der tote Mann, der kalte 
Vater, der verlorene Freund plötzlich wieder dasteht. Da soll einem 
der Abschied nicht im Halse stecken bleiben. Eine Auferstehung, 
kaum zu ertragen.

Und Lazarus blickt ratlos in die Runde: Ob sein Platz im Leben noch 
frei ist? Ob sie ihn begreifen werden; ihn, der er die Grenze zum Tod 
überschritten hat? Lazarus schüttelt den Kopf. Nein, er selbst hätte 
sich vor wenigen Tage nicht verstanden. Als er Abschied nahm von 
Frau und Kindern, Freunden und jeder Hoffnung. Als er noch dachte, 
er wüsste viel über den Tod. Wie oft hatte Lazarus selbst an den 
Gräbern von Freunden gestanden. 
Doch absolute Fehlanzeige. Nichts wusste er vom Sterben, weil es 
sein eigenes Sterben war. Kein Zuschauer, sondern Sterbender war er. 
So sah es aus. Unbeschreiblich, nicht in Worte zu fassen. 

Das unterscheidet ihn von denen, die nun langsam auf ihn zukommen. 
Sie sehen das Wunder, glauben, den alten Lazarus wieder zu sehen. 
Doch er ist ein anderer, einer der den Tod durchschritten hat und ins 
Leben zurückkehrt. Voller Zweifel, ob er noch in diese Welt passt. 
Ob er sich mit dieser Todeserfahrung nicht lieber auf den Weg 
machen sollte, hinaus aus den alten Bindungen hinein in eine 
Auferweckung des Lebens?
Jesus, so scheint es, weiß um diese Fragen des Lazarus. „Löst die 
Binden und lasst ihn gehen!", das ist sein Rat. Lasst ihn gehen, wohin 
er will. Vielleicht ist ja sein neuer Weg nicht der alte. Wickelt ihn 
nicht in Bindungen, die dem Auferweckten nicht mehr passen. 

Die Auferstehung eines Menschen zu unseren Lebzeiten, könnten wir 
das eigentlich ertragen? Es gibt unendliche Sehnsüchte, die vielleicht 
zunächst eine Antwort finden würden: Gestreichelt werden, 
gemeinsam lachen, viel Fragen und Hören. Um dann vielleicht 
festzustellen, dass der Platz neben mir nicht mehr so frei ist, wie am 
Tag des Todes. Jeder Mensch hat seine spezifische Verdrängung. So 
auch der Auferstandene, der sich zu uns gesellt und sich in unser 
Leben zum zweiten Mal hineindrängt. Und zum zweiten Mal sterben 
wird, weil er immer noch ein Mensch ist, so wie wir. 
Eine Auferstehung zum Tod? Paradox. 

Was würde ich meine Großmutter nicht heute alles fragen und mit ihr 
erleben wollen? Sie starb, als ich 12 war. Ich erinnere mich noch an 
die Fahrten von Reinbek nach Flensburg, an die kleine 
Einzimmerwohnung mit WC im Treppenhaus. An die prima Waffeln 
mit Schlagsahne. An warmherzige Ausstrahlung. An die Blutbuche 
auf dem Burgplatz, die noch heute die Straßenkreuzung prägt. Bei 
meiner Großmutter schien immer die Sonne zu scheinen. 
Seitdem hab ich durch meinen Vater immer mehr über seine Mutter 
gehört: Über ihre Lebensstärke und ihre Erfahrungen. In Danzig 
geboren, aufgewachsen und verliebt. Verliert den Mann an der Front, 
flieht mit Sohn und Neugeborenem nach Westen, und kann das Baby 
vor dem Tod nicht bewahren. Auch ihre Mutter stirbt. Mit ihrem Sohn 
gelangt sie schließlich über Amrum nach Flensburg. Später erfährt sie, 
dass ihre Tante in Theresienstadt umgebracht wurde. Trotz allem kann 
sie ihrem Sohn, meinem Vater, ein geborgenes Zuhause und viel 
Liebe schenken. Da ist es doch nicht verwunderlich, dass ich noch viel 
mehr von ihr erfahren wollte. 

Aber was wäre, wenn meine Großmutter unvermittelt wieder vor mir 
stände? Martin, mal ganz sprachlos, glücklich, ein Tag zu Tanzen. 
Und dann die Frage, wie lange bleibt sie jetzt? 
Gibt es einen neuen Abschied? Ganz gewiss. Ich könnte meine 
Großmutter nicht festhalten, genauso wenig wie zu ihren Lebzeiten. 

Nein, so sehr ich auch manchmal das Wiedersehen mit meiner 
Großmutter herbeisehne, einen erneuten Tod, einen zweiten Abschied 
könnte ich nicht ertragen. 
Ein Wiedersehen ohne Endlichkeit, eine immerwährendes Hallo-
Sagen, das wäre schon was Anderes. Wiedersehen in der 
Unendlichkeit Gottes, das wünsche ich mir und daran glaube ich. 



Auch Jesus konnte als Auferstandener nicht lange unter uns Menschen 
leben. Er ist ein ganz anderer geworden. Nicht von ungefähr erkennen 
ihn die Männer und Frauen seiner Gemeinschaft nicht mehr auf 
Anhieb. Die Auferweckung aus Tod und Abschied hat selbst ihn 
verändert. Unerkannt steht er Maria gegenüber, unbekannt und doch 
merkwürdig vertraut begleitet er die Jünger nach Emmaus. Jesus ist 
nicht mehr ein Adam, ein Mensch vom Ackerboden her geformt. Er 
ist der Erde entrückt, auf dem Weg zu Gott, der ihn zu sich zieht mit 
seiner ganzen Liebe. 

Genau das ist der Punkt: Wir haben noch etwas zu erwarten nach 
unserem Tod, zu erwarten von Gott. Wir werden als ganz andere und 
doch wir selbst auferstehen und Gott begegnen von Angesicht zu 
Angesicht. Da wird der Löwe liegen bei den Schafen. Da werden 
unser Handeln und unser Wünschen nicht mehr auseinanderfallen. 
Und vielleicht werden wir ziemlich erstaunt sein, dass dies Paradies 
uns gar nicht so unbekannt ist: 

Wir schauen das Paradies schon jetzt in unserem Leben. Wenn wir uns 
berühren lassen von der Lebenschance des Glaubens. Manchmal ist es 
ein Gespräch unter Brüdern, die seit Jahren den Kontakt meiden; oder 
das Glück einer Mutter, die ihr Baby nach wochenlangem Bangen im 
Brutkasten nun gesund auf den Arm nehmen darf. Oder das 
unversehrte Ankommen zu Hause nach einem anstrengenden Tag, 
wenn der geliebte Menschen wartet. 
So nahe sind wir dem Paradies schon hier. So eng führt uns das Leben 
mit unserem Glauben an die verheißene Zukunft heran. Es ist die 
Liebe Gottes zu uns, der wir bewusst oder unbewusst zum Durchbruch 
verhelfen. 

Diese Liebe kann erstarrte Meinungen, Ängste oder die Macht des 
Faktischen durchbrechen. Liebe kann aus erstarrtem Leben, aus 
Totem, neues Leben hervorbringen. Wir können keine Menschen 
lebendig machen, aber wir können uns selbst und unser Umfeld aus 
Erstarrung lösen. Mit der Hilfe Gottes, im Glauben an seine erlösende 
Liebe, ist vieles möglich. Auch unsere Auferstehung zu neuem Leben.

Das ist keine einmalige Auferstehung. Dazu ist das Leben zu 
wechselhaft und unberechenbar. 
Es gibt Zeiten, da sind wir wie Lazarus; unbeweglich, verstrickt, 
kaltgestellt und warten auf den, der den Stein wegwälzt. Wir hoffen 
auf helfende Hände, die uns mitnehmen und neue Wege zeigen. Wir 
werden erkennen, dass wir als andere Menschen aufstehen und 
unseren Weg suchen. 
Und dann gibt es Zeiten, in denen es an uns ist, Menschen 
herauszurufen, ihre Binden zu lockern und sie das Licht des Lebens 
sehen zu lassen. Wir können diesen Menschen nicht alles abnehmen, 
aber das darf auch keine Ausrede sein. Denn ohne unseren tatkräftigen 
Ruf: „Lazarus, komm heraus." und unseren Glauben an die 
Auferstehung, kann der hilflose Menschen eben nicht aufstehen. 


Und es geschieht unter uns: Ein Mensch erhebt sich aus dem Grab 
seines Leben, er legt die Bande des Todes ab und steigt hinaus ins 
Licht. Da steht er, auferweckt vor der Zeit, blinzelt verdutzt in die 
Sonne und sieht Gesichter voll Stauen. Ein Mensch, ganz anders und 
doch ganz da.

Diese Lazarus-Erfahrung, die wünsche ich uns. Dass wir Antwort 
geben können auf den Ruf Jesu, und sagen:

„Ich bin wieder da. In meinem Revier. 
War lange fort. Ich bin wieder hier." 
Amen

Ideen und Mails an: martin@comtheo.de