Comtheo * Predigten aus dem Vikariat von Susanne und Martin Jensen


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2.Juli 2000 - 2.Sonntag nach Trinitatis - Römer 9,1-5.31-10,4
Vikarin Susanne Jensen

Liebe Gemeinde!

Der heutige Sonntag heißt liturgisch: „Israelsonntag“.
Mit seinen Bileltexten, Gebeten und Liedern gibt uns
der „Israelsonntag“ vor, über das Verhältnis 
der christlichen Kirchen zum Volk Israel nachzusinnen.
In meinem Lektionar von 1985 ist dieser Sonntag
sogar noch überschrieben mit:
Gedächtnis der Zerstörung Israels.

So hat das Schicksal Israels durch die 
Jahrhunderte hindurch Christen beschäftigt.
Ihr Blick fiehl auf ein Volk, daß auf Grund
von Vertreibungen und Verfolgungen fast über den
ganzen Kontinent verstreut wurde.

Die Vertreibungen, Verfolgungen 
oder die Missionierung von Juden 
waren überwiegend christlich motiviert. 
Bis ins 20.Jahrhundert war der gelebte jüdische Glaube
Christen ein Dorn im Auge.
Anscheinend war es über 2 Jahrtausende hinweg nicht möglich
ein Nebeneinander beider Glaubensweisen zu akzeptieren.
Und so wird noch bis in unsere Tage strittig diskutiert,
ob die Missionierung von Juden zum christlichen Glauben
theologisch zu rechtfertigen sei.

Will man an diesem Sonntag,
das Verhältnis der christlichen Kirchen zum Volk Israel
zum Hauptthema des Gottesdienstes machen,
geht dies nicht, ohne an die grauenvollen Verbrechen
die an den Juden Europas im 20.Jahrhundert geschenen sind,
zu erinnern.

Als Theologie-Studentin habe ich mich auch 
auf den Weg der Erinnerung gemacht:
Für mich war der Weg der Erinnerung eine
außergewöhnliche Gedächtnis-Reise.
Von einem Erlebnis auf dieser Reise möchte ich ihnen erzählen:
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Ich sah eine brennende Kerze,
um die Kerze war Dunkelheit - Schwärze.

Wie konnte es nur so dunkel sein? -
Das verstand ich nicht;
denn die Flamme dieser brennenden Kerze 
wurde durch Wände aus Spiegelglas
tausendfach wiedergespiegelt.

Ein unheimlicher Anblick:
Ich sah die Dunkelheit 
gleich einem tief schwarzen Himmel
übersäht mit tausenden von Lichtpunkten.

Die Lichtpunkte konnten scheinbar nicht
gegen die Schwärze anleuchten.

Jeder Lichtpunkt stand für ein Menschenleben.
Jeder Lichtpunkt stand für eines der ermordeten Kinder,
die sterben mußten in von Deutschen errichteten
Konzentrationslagern.

Erhalten gebliebene Auflistungen gaben ihre Namen,
ihre Geburtsorte und ihre Sterbedaten an. 
Ihre Namen waren nicht ausradiert, nicht schnell
verbrannt worden im Zuge der Beweisvernichtung.
Und so können heute noch ihre Namen ein Zeugnis geben
von ihrem grausamen Tod in den Vernichtungslagern.

Eine Stimme im Raum las unaufhörlich ihre Namen,
ihre Geburtsorte und das Alter das sie erreichten.

Bedeutete ihr Leben und ihr Sterben
dieser Welt nichts?
Ein Name folgte dem anderen, ohne Unterbrechung,
ohne Gnadenpause ... im Alter von 10 Jahren ...
im Alter von 6 Jahren ... im Alter von 3 Jahren ...

Dieser Raum mit seiner abschließenden,
unentrinnbaren Atmosphäre - dunkel schwarz -
mit Lichtpunkten, die vor meinen 
Augen zu tanzen begannen,
dieser Raum nahm mir die Orientierung.

Hektisch, wie eine Verfolgte, eine Flüchtige,
drängte ich mich gegen den Besucherstrom nach draußen.

Die Nachmittagssonne schien gleißend auf das Areal
der Gedenkstätte für die Opfer des Nazionalsozialismus,
auf „Jad WaSchem“, am Rande Jerusalems im
Spätherbst 1994.

Der von mir geflohene Ort war das Childrens Memorial.
Es war zu hart für mich. 
Die tausenden von Lichtpunkten und Namen,
das unendliche Leid von Gotteskindern, 
die umgebracht wurden
im Namen von Führer, Volk und Vaterland,
nur weil sie Juden waren.

Bedeutete ihr Leben und Sterben dieser Welt nichts?
-------------------
Der Apostel Paulus hätte wohl auch geweint,
wenn er durch dieses Childrens Memorial in 
Jad WaSchem gegangen wäre.
Er hätte geweint.

Paulus hat seiner Gemeinde in Rom
in 3 Kapiteln, ausführlich geschrieben, 
wie er das Verhältnis von Christen und Juden sah.

Die Anfangsverse von Kapitel 9 lese ich ihnen vor:
„Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht,
wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist,
daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß
in meinem Herzen habe.
Ich selber wünschte, verflucht und von Christus 
getrennt zu sein für meine Brüder, 
die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch,
die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört
und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz
und der Gottesdienst und die Verheißungen,
denen auch die Väter gehören,
und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch,
der da ist Gott über alles, 
gelobt in Ewigkeit. Amen.“

Paulus war ein Grenzgänger:
ein gebürtiger Jude und  ein gläubiger Christ.
Auf seinen Missionsreisen entfernte er sich
sowohl geographisch als auch glaubensmäßig
von Israel und seinen Traditionen.
Für ihn war dies ein schmerzhafter Ablösungsprozeß.
Ja, fast ein Trauerprozeß.
Es schmerzte ihn und machte ihn traurig,
daß er sich glaubensmäßig von seinen jüdischen 
Wurzeln entfernte. 

Denn er wußte genau, was die jüdischen Wurzeln waren,
er wußte, was seinem Volk gehörte.
Dies zählte er am Anfang von Römer 9 auf:
Die Herrlichkeit Gottes, der Bund Gottes,
das Gesetz, der Gottesdienst, die Verheißungen,
die Väter und das Judesein an sich.

Paulus, der Stammverwandte nach dem Fleische,
sah diesen wertvollen Besitz seines Volkes,
er wußte um den ungekündigten Bund Gottes
mit ihnen, er wußte, daß Gott sie liebt,
wie seinen Augapfel.

Auf seinen Reisen durch den Mittelmeerraum trat
Paulus immer wieder in Synagogen auf und predigte
dort und sprach vertraute gute Gebetsworte, gerichtet 
an den Gottes Israel, den Vater Jesu. 

Aus dem Propheten Jesaja:
„Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth,
alle Lande sind seiner Ehre voll.“
Uns wohlbekannte Worte, die im jüdischen Gottesdienst
„die Keduscha“ heißen und während des 18.Bittengebetes
gesprochen werden, - zu Zeiten des Paulus
und auch heute noch.
Ebenfalls gehört in den Kontext des 18.Bittengebetes
der Aaronitische Segen aus dem 4.Buch Mose:
„Der Herr segne dich und behüte dich;
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir 
und sei dir gnädig;
der Herr hebe sein Angesicht über dich 
und gebe dir Frieden.“

Worte aus dem jüdischen Gottesdienst,
damals wie heute.

Zum Predigttext gehören nun noch die letzten
vier Verse von Kapitel 9 und die ersten 4 Verse von Kapitel
10 des Römerbriefes.
Thema sind Gerechtigkeit und Gesetz.
Dazu sagt uns Paulus:

„Israel aber hat nach dem Gesetz der Gerechtigkeit 
getrachtet und hat es doch nicht erreicht. Warum das?
Weil es die Gerechtigkeit nicht aus dem Glauben sucht,
sondern als komme sie aus den Werken.
Sie haben sich gestoßen an dem Stein des Anstoßes.
wie geschrieben steht: 
Siehe, ich lege in Zion einen Stein
des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses; 
und wer an ihn glaubt, 
der soll nicht zuschanden werden.“

Kapitel 10
„Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, 
und ich flehe auch zu Gott für sie, daß sie gerettet werden.
Denn ich bezeuge ihnen, daß sie Eifer für Gott haben,
aber ohne Einsicht.
Denn sie erkennen 
die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt,
und suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten
und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan.
Denn Christus ist des Gesetzes Ende;
wer an ihn glaubt, der ist gerecht.“

Zum Ausdruck kommt eine entgegengesetzte Auffassung
von der Erlangung der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.

Dies ist ein komplizierter theologischer Sachverhalt, 
der oft sehr vereinfachend gepredigt wird,
und noch vereinfachender auf die bestehende 
jüdische Religion eins zu eins übertragen wird.

Im Ergebnis kommt dabei oft 
ein Zerrbild des jüdischen Glaubens heraus:
Juden seien gesetzlich, sie erfüllten die Gesetze
um der Gesetze Willen, ihr Gott sei ein strafender
strenger Gerichtsgott, der einen Sklavengehorsam 
forderte.
Dieser gesetzlicher Glaube betrifft natürlich alle 
Juden zu allen Zeiten. 
Mit Paulus kann man diese Auffassung
schön unterfüttern. Im Extremfall könnte man
sogar annehmen, die Juden beteten einen anderen Gott
an als die Christen.

Dabei wird vergessen, 
daß Paulus aus einer bestimmten
Situation und aus einem bestimmten Kontext 
heraus geschrieben hat: 
dem Ablösungs-Kontext und Missionierungs-Kontext.
Er löste sich gerade aus seiner Tradition,
und damit auch von den Religionsgesetzen,
die sowohl in der mündlichen 
als auch in der schriftlichen Tora wegweisend waren.
Seinen religiösen Eifer band er nun ganz an Christus
und die Aufgabe, das Evangelium von Jesus Christus
in alle Welt zu bringen.

Paulus trennte sich mit seinem Glauben an Jesus Christus
von dem Glauben seiner Väter, und so entstanden zwei 
Glaubensweisen, die viel miteinander gemeinsam haben,
die aber auch Wesentliches unterscheidet.

Im Horizont gerade des Israelsonntages
sollte uns Christen bewußt sein, daß es zwei 
dicht beienanderliegende Glaubensweisen gibt:
die christliche und die jüdische,
die die hebräische Bibel gemeinsam
als Quelle für Gottes Wort lesen,
und die sich ausrichten zu dem einen 
gnädigen und barmherzigen Gott.

Wo blieben bei einem solchen Bewußtsein 
die Feindbilder?

Sind Feindbilder nötig,
um glauben zu können? 
um richtig zu glauben? 

2000 Jahre Judenfeindschaft
sind ein Wahnsinn,
eine Geschichte des Unglaubens.

Wann ist unser Glaube richtig?
Wenn er durch unsere Worte und Taten
erkennen läßt, daß Friede für uns ein Name Gottes ist.

AMEN

Ideen und Mails an: webmaster@comtheo.de